Mittwoch, 2. September 2009

Berliner Zeitungs Interview

Wir haben uns nie richtig normal gefühlt
Bill und Tom Kaulitz von Tokio Hotel im Gespräch über Fremdheit, Einsamkeit, Traurigkeit, die Freude am Job und ihr neues Album "Humanoid"
Katja Schwemmers
Eine "Diamantene Schallplatte" aus Frankreich, ein Newcomer-Preis bei den MTV Video Music Awards in New York, gleich vier Auszeichnungen bei den MTV Latin Music Awards in Mexiko. Die Erfolgsgeschichte von Tokio Hotel im Ausland in den letzten zwei Jahren ist für eine deutsche Band beispiellos. Am 2.Oktober erscheint nun Tokio Hotels drittes Album "Humanoid" - erstmals weltweit in englischer und deutscher Sprache. Am kommenden Dienstag werden die eineiigen Zwillinge Tom (Gitarre) und Bill Kaulitz (Gesang) 20 Jahre jung.

Bill, Tom, als Tokio Hotel vor zwei Jahren bei den MTV Europe Music Awards in München ihren ersten weltweit ausgestrahlten TV-Auftritt hatten, hagelte es von den Deutschen in der Halle Pfiffe. Ausländische Journalisten fragten mich, warum Landsleute ihre eigene Band ausbuhen. Was hätten Sie geantwortet?

Bill Kaulitz: Ich hätte gesagt, dass in Deutschland die Wahrnehmung von Tokio Hotel eine andere ist. Dadurch, dass wir hier leben und hier auch angefangen haben, und das schon im Alter von 15, ist es anders als in anderen Ländern, wo wir zwar mit derselben Musik, aber eben erst zwei, drei Jahre später loslegten. Es fällt nun mal schwer, über seinen Schatten zu springen und zu sagen: "Ja, ich finde Musik von 15-Jährigen gut." Und letztendlich hat man mit dem Erfolg immer Neider.

Tom Kaulitz: Genau, Erfolg ohne Neid gibt es einfach nicht.

Halten Sie das für typisch Deutsch?

Bill: Ja, aber ich glaube, es entwickelt sich immer mehr in die Richtung, dass man sich auch für uns freuen kann. Diese Tendenzen beobachten wir schon. Das ist spannend. Aber heftige Reaktionen waren eh nie neu für uns. Und ehrlich gesagt, ist es auch immer eine Herausforderung, wenn so was passiert. Wenn ich auf der Bühne stehe, und die Leute buhen oder ähnliches, dann ist das in erster Linie Ansporn. Ich werde deshalb nicht schüchtern oder innerlich traurig. Sondern denke: OK, dann muss ich noch mehr Gas geben, damit das solche Leute auch gut finden.

Gleichzeitig soll Dave Grohl von den Foo Fighters nach besagtem Auftritt zu Ihrem Schlagzeuger Gustav gegangen sein und ihm anerkennend auf die Schulter geklopft haben.

Tom: Gerade an dem Abend bei den EMAs kamen diverse Leute auf uns zu und sagten: Es war super.

Bill: Ja, so ist das. Es gibt andere Bands, die nicht mitkriegen, was in Deutschland passiert, und uns völlig unvoreingenommen gut finden können. Jay-Z hat sich unsere Show in Los Angeles angeguckt und ging danach mit uns essen. Da fühlt man sich schon geehrt.

Das allgemeine Interesse an Ihnen hat auch negative Seiten. Macht es Ihnen Angst, dass der Erfolg, für den Sie arbeiten, Ihren persönlichen Freiraum weiter einschränkt?

Tom: Ich glaube, der ist schon so weit eingeschränkt, viel schlimmer kann es nicht werden.

Bill: Ja, das ist eine Sache, die mit dem Erfolg mitkommt. Aber wir sind auch ein bisschen erfolgssüchtig. Man will immer noch mehr.

Wann haben Sie zuletzt die Freiheit des Unerkannt-Bleibens genossen?

Bill: Als wir Anfang 2008 das erste Mal in Amerika waren und einfach vor die Tür gegangen sind. Ohne Bodyguard auf der Straße rumzulaufen, das war schon cool. Aber gleichzeitig sagt man sich dann wieder: "Irgendwie will ich, dass die Leute auch hier die Musik und die Band kennen und uns erkennen."

Wo könnten Sie denn heute noch unbekümmert Urlaub machen?

Bill: Vermutlich in Australien. Da waren wir noch gar nicht.

Tom: Wir haben mittlerweile aber aus jedem Land irgendwelche Reaktionen erhalten. Selbst aus Japan und Australien, obwohl wir dort noch nichts veröffentlicht haben.

Ihre neue Platte heißt "Humanoid". Führen Sie ein humanoides, also nur menschenähnliches Leben?

Tom: Wir sind in der tiefsten Provinz aufgewachsen. Wir haben uns nie richtig normal gefühlt, immer maximal menschenähnlich. Es gibt auch heute bei uns nur ganz wenige Orte, wo man sich vertraut fühlt und entspannen kann. Eigentlich stellt sich das Gefühl nur noch zu Hause ein. Da sind wir vielleicht 20 Tage im Jahr. Und ansonsten fühlt man sich überall, wo man hinkommt, eher ein bisschen fremd.

Irgendwie traurig, oder?

Bill: Ja, manchmal. Aber .

Tom: . andererseits haben wir uns komplett daran gewöhnt. Wie gesagt, es ist ein Gefühl, was auch vor unserer Karriere immer da war.

Ihr Produzent David Jost beschrieb Sie, Bill, jüngst als dunklen Melancholiker der Band. Haben einsame Hotelnächte dazu beigetragen?

Bill: Die haben es verstärkt. Aber ich denke, so war ich schon immer. Ja, doch .(guckt zu seinem Bruder)

Tom: Ja, auf jeden Fall!

Bill: Ich will auch nicht alles immer nur schön reden. Gerade im letzten Jahr war ja für jeden gut sichtbar, was man privat für ein Leben führt, was für Sachen passieren können. Man muss dann überlegen, ob es einem das alles wert ist. Für mich war es das. Und ist es nach wie vor. Weil es immer noch die Momente gibt, wo ich im Studio stehe, einen Song aufnehme und mir sage: "Krass, mein Beruf ist Sänger. Ich kann damit mein Geld verdienen. Und ich muss nicht irgendeinen Job machen, auf den ich keine Lust habe." Das können nicht viele behaupten, ich habe ganz großes Glück damit.

Und dass das Leben im Käfig ähnlich krasse Auswirkungen auf Sie haben könnte wie bei anderen Stars, befürchten Sie nicht?

Bill: Wenn ich bei Künstlern mitkriege, dass sie tablettenabhängig sind oder Depressionen haben, kann ich das vermutlich eher nachvollziehen als Außenstehende, die nicht in so einem Leben stecken. Aber ich bin einfach wahnsinnig froh, dass ich Tom habe. So ist immer ein Familienmitglied mit dabei. Und als Band sind wir jetzt seit fast zehn Jahren zusammen und kennen uns richtig gut. Für Michael Jackson, eine Britney Spears oder all die anderen Solokünstler ist das sicher noch mal um einiges härter.

Wie groß sind denn die Chancen, dass Sie Ihre Traumfrau im Supermarkt treffen?

Bill: Man hofft natürlich. Ich sage immer: Eigentlich ist das ja der einzige Grund, warum man morgens aufsteht! Man will ja geliebt werden! Und man will seine Liebe finden, weil: Sonst hat ja alles keinen Sinn. Wir haben unsere Familien und Freunde, die immer wichtiger werden. Aber natürlich hoffe ich, dass die Liebe passiert. Obwohl ich im gleichen Moment weiß, das es das Unrealistischste ist, was gerade in meinem Leben geschehen könnte. Die vergangenen fünf Jahre, seit das mit Tokio Hotel losging, hatte ich ja keinerlei Beziehungen, da war gar nichts in dieser Richtung. Aber ich hoffe auf den großen Zufall.

Tom: Grundsätzlich muss man aber sagen, dass wir kaum noch vor die Tür gehen.

Haben Sie keine Kontakte zu Hollywoodschönheiten knüpfen können, wo Sie doch schon in Los Angeles aufgenommen haben?

Tom: An Telefonnummern mangelt es nicht. Ich habe so viele im Handy, so viele Frauen könnte ich an einem Tag gar nicht anrufen.

Bill: Das Problem ist aber, dass man sich nie so richtig intensiv kennen lernt. Alles ist oberflächlich. Und es geht auch alles so schnell vorbei. Viele meinen, man hängt bei Veranstaltungen zusammen rum. Aber so ist es ja gar nicht. Jeder hat seinen eigenen Film, hetzt seinem Zeitplan hinterher. Wenn die Kameras weg sind, rennt man zu seiner Garderobe zurück und ist für sich.

Tom: Vielleicht tauscht man mal Nummern aus, aber für mehr reicht es nicht. Bill hat da ja sowieso keinen Bock drauf. Und bei mir reicht es dann maximal für eine Nacht. Und selbst wenn du dir vornimmst, mal was Ernsteres daraus werden zu lassen, hast du ja gar nicht die Möglichkeit. Ich bin den einen Tag in der Stadt und den nächsten woanders.

Bill: Ich bräuchte ja ein Mädchen, das ihr komplettes Leben aufgibt. Und bereit ist, mein Leben mit mir zu leben.

Aber dann wäre sie ja auch irgendwie uninteressant, oder?

Bill: Nicht unbedingt. Natürlich muss sie ihre eigene Persönlichkeit haben, aber eben auch bereit sein, den Wahnsinn mitzumachen, den ich den ganzen Tag habe. Ich glaube, das ist schwer. Bei aller Liebe.

Tom: Es muss gut überlegt sein, jemandem, der so ein Leben überhaupt nicht kennt, so was anzutun.

Androgynen Popstars sagt man gemeinhin nach, dass sie von jungen Mädchen deshalb so gemocht werden, weil sie ungefährlich für sie sind. Sind Sie ungefährlich, Bill?

Bill: Ich weiß nicht, aber gut möglich. Man sagt aber andererseits auch, dass Frauen auf Arschlöcher stehen. Und ich stelle ja bei meinem Bruder immer wieder fest, dass das auch funktioniert.

Das Gespräch führte Katja Schwemmers.

------------------------------

Keine Kommentare: